Im Kaninchenreich
Keine Schuhe, keine Tristesse. Pirmasens ist die heimliche Kaninchenhauptstadt in Rheinland-Pfalz. Zu Besuch beim Gersbacher Kaninchenzüchter Dieter Kunz
Das Leben eines Pirmasenser Hasenkaninchens beginnt in den Händen von Dieter Kunz. Komplett nackt liegt es da, es wimmert und piepst. Acht Tage ist das Jungtier mittlerweile alt. „Erst am zehnten Tag öffnen sie ihre Augen“, sagt Dieter Kunz und kneift seine Lippen leicht zusammen. Ein bisschen Stolz soll das wohl sein. Als das Tier den Kopf ruckartig nach links und rechts bewegt, legt er es zurück ins Heu, schließt die Box und nimmt einen Zug von seiner Zigarette.
Ein großes Haus in Gersbach. Seit 1972 Stadtteil von Pirmasens. Schuhe sucht man hier vergeblich, leerstehende Schaufenster ebenso. Ein Traktorfahrer grüßt den auswärtigen Gast mit einem Nicken.
Im Hinterhof befindet sich das Reich von Dieter Kunz. Es sieht aus wie in einem überdimensionierten Gartenschuppen. In der Mitte ein mit grünem Stoff beklebter Tisch; Maßband, Gießkanne und eine Flasche Jever-Fun stehen darauf. Vergangenes Jahr hat Kunz mit dem Alkohol aufgehört, nur die Zigarette bleibe sein ewiges Laster. In den Wänden sind kleine Boxen eingelassen. Hinter den Gittern springen, schlafen, trinken, fressen, rammeln große Widder-, kleine Widder, Hasen- und Lohkaninchen. Fast 45 Stück sind es momentan, sagt Kunz. Im Sommer werden es bis zu 200 sein.

Seit 50 Jahren züchtet Dieter Kunz Kaninchen. Seit 1989 ist er Vorsitzender des Kaninchenzuchtvereins P17 Gersbach e.V. in Pirmasens, das so etwas wie die heimliche Kaninchenhauptstadt in Rheinland-Pfalz ist. Im Landkreisgebiet gibt es 17 Vereine mit insgesamt fast 1000 Mitgliedern. Zum Vergleich: Im Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter e.V. sind 120.000 Mitglieder organisiert. Als einzige Messestadt im Land richtet Pirmasens regelmäßig Kaninchenschauen aus. In der Stadt selbst gibt es noch drei Vereine. Doch auch vor ihnen macht der Strukturwandel nicht halt. Nachwuchssorgen gibt es auch in der Kaninchenzucht. In Pirmasens stehen ihr schwierige Zeiten bevor.
Dieter Kunz hat ein Hasenkaninchen auf den Tisch gelegt. „Das habe ich vor kurzem gekauft, weil es eine schöne Länge hat. Das ist bei Hasenkaninchen besonders wichtig.“ Entscheidend, erklärt er, seien zudem die „schönen Läufe“ und eine „ansprechende Deckfarbe“. In diesem Fall: Rot-Braun.
Angefangen hat alles mit seinem Vater, Emil Kunz. Der war Landwirt und hatte immer Tiere auf dem Hof, der jetzt Dieter Kunz gehört. Eines Tages schenkte ihm jemand Kaninchen – und er wurde sie einfach nicht mehr los. Emil Kunz spannte seine ganze Familie ein: Sohn Dieter begann im Alter von 13 Jahren, Sohn Günther half anfangs nur mit und züchtet erst seit 1980 selbst. Der Bruder habe erst sehr spät die nötigee Energie entwickelt, sagt Dieter Kunz. „Aber er hat sich schon gesteigert“, erkennt er neidlos an.
Wenn er darüber redet, was so besonders ist an der Kaninchenzucht, blickt Dieter Kunz ins Weite seines Stalles: „Ich fühle mich einfach wohl, wenn ich allein bin mit meinen Hasen.“ Ab und zu kommt ein anderer Züchter vorbei, dann diskutieren sie stundenlang über die Tiere und deren Pfoten. Einmal im Monat finden Vereinssitzungen statt. Und im Herbst beginnt der eigentliche Sinn der Züchterei: Dann ist Messesaison und die Brüder Kunz reisen durch das ganze Land.
Auf den Schränken stehen unzählige goldene und silberne Pokale. Pfälzer-Jungtiermeister, Kreismeister, Meister der Rheinland-Pfälzischen Kaninchenzucht, Landesmeister in der Hasenkaninchenzucht. Dieter Kunz hat fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, allein Bundesmeister war er noch nicht. Bei den Bundesmeisterschaften in Leipzig Anfang Dezember möchte er das ändern. „Mein großes Ziel ist es, die braunen Hasenkaninchen auszustellen.“ Da hätte er in diesem Jahr einen schönen Wurf.
Wichtig sind bei den Messen zunächst die Standards: eine schöne Körperform, ein optimales Gewicht und eine gute Vorbereitung. Das Kaninchen müsse vor den Augen der Preisrichter schön ruhig bleiben, erklärt Kunz, nur so könne es die maximale Punktzahl bekommen. Noch entscheidender ist aber die Herkunft. „Man sucht sich immer Tiere von erfolgreichen Züchtern“. Die kauft Kunz auf den Messen ein. In der Regel zahlt er zwischen 50 und 100 Euro pro Tier.
Für den Gersbacher ist die Kaninchenzucht nichts, was man halbherzig betreiben kann. Vielen fehle der Ehrgeiz, der für den Erfolg nötig ist, sagt er. Das sei auch das Problem der beiden anderen Pirmasenser Kaninchenzuchtvereine: Im Stadtteil Erlenbrunn hätten sie zwar viele Mitglieder, aber nur wenige Züchter, der Verein in der Stadt Pirmasens „keine Ziele“.

So sei es auch kein Wunder, dass alle an Mitgliedern verlieren. Das ist aber auch beim Gersbacher Verein so: In den Siebzigerjahren waren es noch 23 aktive Züchter, heute sind es nur noch zehn. Damals gab es eine eigene Frauen- und Jugendgruppe. „Wir hatten die beste Jugend in ganz Rheinland-Pfalz“, erinnert sich Kunz’ Bruder Günther, der den Stall betreten hat. Heute ist er Jugendgruppenleiter ohne Jugend.
Es ist nicht so, als würden sich die Kaninchenzüchter nicht gegen die Entwicklung stemmen: Der Trend geht zur Individualisierung, gerade was die Zwergwidder betrifft. Die seien pflegeleichter und in zahlreichen Farben kombinierbar. Eine weitere Neuerung kommt aus Schweden: Kaninhop. Die Kaninchen sollen über Hindernisse springen und werden dazu mit einer Leine geführt. Gerade für Kinder sei das ein großer Spaß, sagt Dieter Kunz.
Aber letztlich müssen nun einmal die Eltern über die Hobbys der Kinder entscheiden. „Ein Kaninchen zu halten, ist anspruchsvoller als Fußballschuhe zu putzen“, sagt Kunz. Dabei sei das doch gerade das Entscheidende: „Man übernimmt schon in jungen Jahren Verantwortung.“ Die Brüder haben das auch mit ihren Kindern so gehandhabt. Fast alle sind selbst zu Züchtern geworden. Zumindest im Hause Kunz wird die Kaninchenzucht nicht aussterben.
Das Leben vieler Pirmasenser Kaninchen endet in den Händen von Dieter Kunz. Sobald die Ausstellungssaison im Herbst vorbei ist, werden die Tiere auf seinem Tisch geschlachtet, im Schnitt einhundert an der Zahl. Die verkauft oder verschenkt Dieter Kunz vor Weihnachten. Er selbst isst aber keine davon. Das hat nichts mit emotionalen Gründen zu tun: „Nein, das Kaninchen schmeckt mir einfach nicht.“